Ein Hahn namens Maurice

Dieser Artikel stammt aus dem Aufwind 1 / 2021. Unser Freundesbrief „Aufwind“ kann hier kostenlos und unverbindlich bestellt werden.

Über unsere Wurzeln und wie wir mit ihnen umgehen

Ende Januar kursierte folgende Meldung: „Frankreichs Regierung erklärt typische Geräusche vom Lande zum sinnlichen Kulturerbe – den Hahnenschrei, das Blöken der Schafe, das Läuten von Kirchenglocken, das Zirpen der Grillen.” Dieser Schritt soll künftige Klagewellen verhindern, denn diese Klänge hatten für juristische Scharmützel zwischen genervten Städtern und Dorfbewohnern gesorgt. Auslöser war ein Hahn namens Maurice, der einem zugezogenen Rentnerehepaar gnadenlos den Ruhestand zerkräht hatte.

Diese Geschichte zeigt einmal mehr: Es ist hilfreich, seine Wurzeln zu kennen und ein Ja zu ihnen zu finden. Schließlich stammen wir alle irgendwie vom Lande; man muss nur weit genug zurückgehen.

Die Frage, wo wir herkommen, gehört zu den wichtigsten des Lebens. Sie bestimmt, wohin die Reise geht, denn unser Blick zurück hat Einfluss auf unseren Blick nach vorn. Der Apostel Paulus mahnt:

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“

(Röm 11,18).

Man möchte hinzufügen: „Also geht entsprechend pfleglich mit ihr um!“

Paulus meint unser Verhältnis als Heidenchristen zum Volk Israel. Doch diese Wurzel ist nur eine von vielen, die uns tragen.

Jeder hat Vater und Mutter

Gradmesser für unsere Liebe zu Gott ist unsere Nächstenliebe. In den Zehn Geboten, dem Grundgesetz für Gläubige, wird das ganz konkret:

„Ehre deinen Vater und deine Mutter“

(2Mo 20,12).

Warum sollen wir unsere Eltern in besonderer Weise ehren? Weil sie gewissermaßen Gott repräsentieren und seine Arbeit machen – ganz gleich, ob sie an ihn glauben oder nicht. Vater und Mutter schaffen neues Leben und prägen es nach ihrem Bild. Sie bringen ihre Kinder in die Lebensspur, lehren sie, geradeaus zu laufen, versorgen, trösten und ermutigen sie. Sie übernehmen Verantwortung für sie und machen sie fit, einmal selbst Verantwortung zu übernehmen. Sie geben ihnen eine Stimme, damit sie in die ernste und schöne Musik des Lebens einstimmen.

Das hebräische Wort für „ehren“, kabed, geht auf ein Wort zurück, das so viel bedeutet wie „jemandem Gewicht geben“. Indem wir unsere Eltern ehren, sehen wir sie sozusagen als gewichtige, als bedeutende Personen an und behandeln sie auch so. Wir sind ihnen dankbar für das, was sie uns mit auf den Weg gegeben haben. Wir versuchen, ihnen etwas zurückzugeben, freuen uns über ihre Stärken und sind nachsichtig mit ihren Schwächen.

Natürlich sind Vater und Mutter nur Menschen und als solche mit Fehlern behaftet. Sie können egoistisch und verletzend sein, auch gegenüber ihren Sprösslingen. Manche Eltern-Kind-Beziehung ist belastet und braucht, um heil zu werden, nicht nur Zeit und Abstand, sondern vielleicht sogar professionelle Beratung. Manchmal geschieht Versöhnung erst am Sterbebett des Vaters, der Mutter. Oder an ihren Gräbern.

Das Leiden an der eigenen mangelnden Versöhnungsbereitschaft kann der erste Schritt zur Versöhnung sein. Auch hier schaut Gott das Herz an.

Christen haben Glaubensväter und -mütter

Viele können sich ein Leben lang an die Leute erinnern, die sie im Glauben geprägt, ihnen von Jesus erzählt oder sie begleitet haben. Die Eltern, die Großmutter, der fromme Nachbar, die Kindertante aus der Gemeinde.

Bei mir war es ein reisender Evangelist, dem ich einen entscheidenden Impuls verdanke. In den 1980er Jahren sprach er abends in einer vollbesetzten Kirche in Sangerhausen/Südharz. Als junger Atheist auf der Suche saß ich zusammen mit meinen Freunden von der Jungen Gemeinde in der Kirchenbank. Vieles von dem, was ich hörte, sagte mir nichts. Plötzlich kriegte ich große Ohren: Es ging darum, dass man auch ohne christliche Erziehung zu Jesus kommen und Christ werden könne. Genau das war es, was ich wollte: richtig dazugehören. So einfach war das also! Nach der Predigt ging ich nach vorn, kniete mich hin und betete alles mit, was ein Mitarbeiter mir vorgab …

Es dauerte noch ein paar Jahre, bis ich begriff, dass es im Christsein mehr gibt als nur dazuzugehören. Aber für mich war das der erste Schritt. Und dem Evangelisten Werner Morgenstern werde ich im­mer dankbar sein.

Einmal erzählte ich einem katholischen Pfarrer von meinen zwei Bekehrungen – die eine zu den Christen, die andere zu Jesus. Er schaute mich groß an und fragte: „Ist das nicht ein und dasselbe?“ Ich brauchte ein wenig, bis mir dämmerte, was er meinte: Die Gemeinschaft der Gläubigen ist der Leib Christi und mit ihm, dem Haupt, untrennbar verbunden. Die Kirchenväter haben auf die geheimnisvolle Einheit von Christus mit der Gemeinschaft seiner Gläubigen hingewiesen1. Einige nannten sogar in einem Atemzug Gott Vater und die Kirche Mutter2.

Kirche bzw. Gemeinde als Mutter – das ist für viele Gläubige sicher eine Herausforderung. Aber liegt dieser Gedanke so fern? Es wird Leute geben, die den Ruf „Komm und folge mir nach“ direkt von Jesus gehört haben. Doch den meisten Christen hat ein anderer Christ den Weg zu ihm gezeigt. Natürlich ist es Gott, der Glaube, Liebe und Hoffnung in unsere Herzen legt. Aber wer hat uns etwas von Glaube, Liebe und Hoffnung beigebracht? Es war die gute alte Kirche und ihre Diener, die die Gläubigen hervorgebracht, sozusagen „zur Welt gebracht“ hat.

Das erweitert den Kreis unserer geistlichen Väter und Mütter enorm. In unseren Breiten reichen die ersten Berührungspunkte mit dem Evangelium zurück ins Mittelalter. Wir denken da schnell an Mission mit Feuer und Schwert. Sicher, die gab es. Aber es gab auch Leute, die ihre Köpfe dafür hingehalten haben, damit aus unseren Urahnen – den alten Germanen, den Franken, den Sachsen – Christen wurden. Etwa der irische Mönch Columban; oder der Brite Wynfrith, besser bekannt als Bonifatius, der „Apostel der Deutschen“. Die Bischöfe Boso von Merseburg oder Otto von Bamberg; letzterer gilt als „Apostel der Pommern”.

Leuten wie ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir in einem christlich geprägten Land leben. Diese Gottesmänner zogen zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert predigend durch die Lande, tauften Neubekehrte, lehrten das Volk. Sie errichteten Kirchen, gründeten Klöster, fällten kultisch verehrte Bäume – oft unter dem Jubel der heidnischen Stämme, weil da jemand den Mut hatte, die Quelle ihrer Angst zu zerstören …

Warum ist es hilfreich, diese Wurzeln zumindest zu kennen? Weil die Kirchengeschichte nicht mit uns und unserer Gemeinde angefangen hat. Eigentlich eine Binsenweisheit. Wir sind nicht die ersten, die an Gott glauben; auch vor uns haben sich schon Leute mit geistlichen Dingen beschäftigt. Von ihnen zu lernen kann uns davor bewahren, das Rad immer neu zu erfinden oder Irrtümer zu wiederholen.

Christen haben ältere Geschwister

Wenn wir durch den Glauben mit Jesus Christus verbunden sind, dann sind wir auch mit dem Volk verbunden, aus dem er kam. Es gibt im Alten Testament eine wunderbare Prophezeiung:

„So spricht der Herr der Heere: In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch“

(Sach 8,23).

Wenn wir uns in die zehn Männer aus allen Völkern einreihen, dann wird der Mann aus Juda, an dem wir uns festhalten, niemand anderes als Jesus sein.

Durch ihn hat der Gott Israels den Bund mit seinem Volk erweitert auf alle Völker. Er hat uns, die Christen aus den Heidenvölkern, in die lebensspendende Wurzel des jüdischen Ölbaumes eingesetzt. Ihr Gott ist unser Gott, denn ihr Messias ist der unsere geworden. Ihre Propheten und ihre heiligen Schriften reden zu uns. Ihr Segen ist unser Segen und ihr Heil ist unser Heil (Joh 4,22).

Niemand ist eine Insel

Hat ein Ja zu unseren Ursprüngen auch etwas mit dem Verhältnis zum eigenen Volk zu tun? Ein heikles Kapitel für uns Deutsche, haben wir doch wie kaum eine andere Nation ein ausgesprochen schwieriges Verhältnis zu unserer Vergangenheit. Was angesichts der Abgründe ja auch verständlich ist. Sämtliche Sternstunden der deutschen Geschichte können nicht das Elend aufwiegen, das unser Volk Mitte des letzten Jahrhunderts über die Menschheit gebracht hat. Wie können wir da zu unseren Wurzeln ein Ja finden?

Könnte uns ausgerechnet der Stammbaum Jesu eine Hilfe sein? Von Abraham, Isaak und Jakob geht es über König David und König Salomo bis hin zu Josef, den Mann der Maria, die Jesus zur Welt gebracht hat (Mt 1). Zwischendurch stehen dort etwa die Moabiterin Ruth oder royale Glaubenshelden wie Hiskia oder Josia. Es sind aber auch Leute verzeichnet, die man sich eher nicht im Familienalbum wünscht. Etwa Tamar, die als Prostituierte verkleidet mit ihrem eigenen Schwiegervater ins Bett ging. Oder die Frau des Uria, die sich mit König David auf eine außereheliche Affäre einließ. Und die beiden sind noch vergleichsweise harmlos. Wir treffen auf Könige wie Joram, der seine eigenen Brüder ermorden ließ; auf Ahas oder Manasse, die nicht davor zurückschreckten, ihre Kinder als Brandopfer zu verbrennen …

Dennoch wurden diese Leute nicht aus dem Stammbaum Jesu gelöscht. Er hat auch für ihre Schuld bezahlt. Sie stehen drin, weil sie nun mal dazugehören. Auch wenn sie Dinge getan haben, die nicht zu begreifen sind.

Das könnte ein Hinweis sein, wie wir als Gläubige mit der Geschichte unseres Volkes umgehen können – einschließlich allem, was wir gerne ungeschehen machen würden: Alles ins Licht Gottes stellen. Nichts beschönigen, relativieren oder verleugnen, sondern akzeptieren, und dafür Verantwor­tung übernehmen. Eine schmerzhafte Wurzelbehandlung. Vielleicht wird für uns das Verhältnis zu unserem Volk immer auch eine Zumutung sein.

Und nun?

Es gibt eine nachdenkliche Geschichte von den Brüdern Grimm: Ein alter Mann lebte bei seinem Sohn und dessen Frau. Zu den Mahlzeiten saß er bei ihnen am Tisch, aber es wurde immer schwieriger. Seine Hände zitterten, er kleckerte und sabberte. Sein Sohn ekelte sich und verbannte ihn zum Essen in sein kleines Schlafzimmer. Da saß der alte Vater nun und löffelte einsam und traurig seine Suppe. Er sehnte sich nach Gemeinschaft. Einmal fiel ihm aus Versehen der Teller runter und zersprang. Wortlos knallte ihm seine Schwiegertochter eine hölzerne Schale hin. In die passte zwar nicht viel hin­ein, dafür ging sie nicht kaputt. Nach dem Essen ging der sechsjährige Enkel nach draußen und schnitzte etwas. Sein Vater fragte: „Was wird das, wenn es fertig ist?“ Der Junge antwortete: „Ich mache eine Schale für Mama und dich. Wenn ich groß bin und ihr alt seid, dann werdet ihr daraus essen“ …

Die Wurzeln, die uns tragen, sind kein abstraktes Gedankenspiel. Sie stehen für Menschen, durch die wir geworden sind, was wir sind. Auch im Blick auf sie gilt die Goldene Regel Jesu: Behandle sie so, wie du selbst behandelt werden möchtest (Mt7,12). Jeder von uns ist auf irgendeine Weise Vater und Mutter bzw. wird es einmal sein. Damit sind wir Vorbild für andere, wie wir zu unseren Ursprüngen stehen und sie behandeln. Lassen wir dabei Liebe und Vergebung walten und verleugnen sie nicht.

Sonst könnte es passieren, dass ein Hahn wie Maurice um die Ecke kommt und uns lautstark an unsere Herkunft erinnert.

Stefan Lehnert ist Mitarbeiter im Offenen sozial-christlichen Hilfswerk. Er ist verheiratet mit Beate und lebt in Bautzen.

Bibelzitate nach Einheitsübersetzung

(1) u. a. Augustinus: „Die Fülle Christi, das ist also Haupt und Glieder. Was heißt: Haupt und Glieder? Christus und die Kirche.“
(2) u. a. Clemens v. Alexandrien: „Einer ist der Vater aller Dinge, einer auch der Logos aller Dinge, und der Heilige Geist ein und derselbe überall, und es gibt auch nur eine einzige jungfräuliche Mutter, ich liebe es, sie Kirche zu nennen.“