Wer verzeiht, lebt gesünder

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Als Jesus am Sabbat in einer Synagoge lehrte, befand sich eine Frau unter den Zuhörern, die seit achtzehn Jahren krank war. Ein Geist der Schwäche hatte sie verkrüppeln lassen. Sie war ganz verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich: „Frau“, sagte er, „du bist frei von deinem Leiden!“ Dann legte er seine Hände auf sie. Da konnte sie sich wieder aufrichten, und sie lobte und rühmte Gott (Lk13,10ff).

Wer verkrümmt ist wie diese Frau, der sieht nur seine Füße und den Boden. Er kann seinen Mitmenschen nicht mehr in die Augen schauen. Auch die Umwelt ist nicht klar und deutlich. Vieles nimmt er nur noch verzerrt und bruchstückhaft wahr. Mal ganz abgesehen von den Schmerzen, die die Verkrümmung verursacht.
Beim Thema Schuld und Vergebung kann es ähnlich sein. Eigene Schuld kann uns niederdrücken. Wir trauen uns nicht aufzusehen. Wir spüren dauernd den Schmerz des Versagens. Oder: Andere werden schuldig an uns. Das kann uns so niederdrücken, verkrümmen, dass wir unsere Mitmenschen und die Umwelt nur noch verzerrt, bruchstückhaft wahrnehmen.
„Du bist frei von deinem Leiden“, sagte Jesus zu der Frau. Oder nach einer anderen Übersetzung: „Du sollst gelöst sein …“ Wir brauchen auch immer wieder eine Freisetzung, eine Loslösung von eigener Schuld und von Verletzungen, damit wir nicht seelisch oder körperlich gekrümmt durchs Leben gehen. Hier kommt Vergebung ins Spiel.
In der Theologie haben Schuld und Vergebung als zentrale Inhalte des christlichen Glaubens eine große Bedeutung. Jesus bezahlte für unsere Sünden mit dem Tod. Durch seine Stellvertretung bleibt uns die Verurteilung erspart – wenn wir Schuld bereuen, bekennen und Gott um Vergebung bitten. Aber wir sind auch herausgefordert, selber zu vergeben. So beten wir im Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Mt 6,12).
Vergeben ist keine Einbahnstraße. Es geht um Nehmen und Geben.
In der Psychologie war „Schuld“ schon immer ein Thema. „Wer ist schuld, dass ich so bin wie ich bin?“ Aber Vergebung spielte keine große Rolle, das wurde der Theologie überlassen. Doch als 1989 der Psychologieprofessor Reinhard Tausch eine Befragung zur Vergebung veranlasste, änderte sich diese Haltung. Als Resultat der Befragung betonte Prof. Tausch in einem Aufsatz: „Es ist wichtig, auch die kleinen Verletzungen des Alltags zu verzeihen, damit wir innerlich heil bleiben.“ – „Das Vergeben ist also von großer Bedeutung.“
Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist Vergeben/Verzeihen in der Psychologie und Psychotherapie „salonfähig“ geworden. Es ist erwiesen, dass Vergebung hilfreich, heilsam und gesundheitsförderlich ist.

Eigene Schuld
Von der Urschuld – getrennt von Gott zu leben – werden wir frei, indem wir alle Sünde ausräumen, Vergebung von Jesus annehmen und mit ihm in eine Beziehung treten. Trotzdem sind wir Christen nicht perfekt und können wieder schuldig werden. Wir begehen ein Unrecht, schaden Anderen, übertreten Gottes Gebote. Oder wir missachten das größte Gebot – Gott zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Ich glaube, dass jeder von uns an diesem Punkt schon gesündigt hat. Die gute Nachricht ist: Ich darf mein Leben lang am Kreuz bei Jesus meine Schuld abladen und befreit weitergehen. Seine Liebe hat Erbarmen und Geduld mit mir.
Wenn ich einen Mitmenschen verletzt habe, erfordert es manchmal nicht nur ein Gebet im stillen Kämmerlein, sondern eine angemessene Wiedergutmachung. Das kann ein klärendes Gespräch sein, mit der Bitte um Vergebung. Oder eine Erstattung, wenn ich dem anderen materiell geschadet habe. Vielleicht ist er trotzdem nicht bereit, mir zu vergeben. Aber dann habe ich meinen Teil getan, um Frieden zu schaffen. Jetzt kann ich es nur loslassen, für die Beziehung beten und mich von Selbstvorwürfen trennen. Gott vergibt mir, also muss ich mir selber auch nichts nachtragen.
Wir tun gut daran, Schuld aus unserem Leben auszuräumen, weil sonst Tod in unser Leben kommt: „Der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23). Das äußert sich manchmal auch in Form von Schwäche und Krankheit.
Studien in den USA sollten ergründen, was passiert, wenn Menschen Zorn und Verbitterung aufrechterhalten oder seelisch verdrängen. Die Forscher stellten fest, dass diese Reaktion die Probleme in den Körper drängen kann. Dieser schüttet dabei Stresshormone aus und ist ständig in einem Erregungszustand, in Alarmbereitschaft. Gefühle kommen in Wallung; es ist wie ein innerer Druckkessel. Auf Dauer kann dies krank machen, z. B. unsere Organe schädigen, zu Depressionen, Rücken- und Hautproblemen führen, das Immunsystem schwächen …
Bei den Studien wurde festgestellt: Vergeben reduziert den Stress in Körper und Seele und wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus.

Schaden durch Andere
Jemand tut uns Unrecht mit Worten oder mit Taten, verletzt und schadet uns. Wir stellen gewissermaßen einen Schuldschein gegen diese Person aus. Wo keine Klärung und Bitte um Vergebung durch den Anderen erfolgt, behalte ich den Schuldschein und trage ihn weiter mit. Damit schleppe ich aber auch negative Gefühle mit mir herum.
Der Schuldschein hält mein Verletztsein, den Schmerz, Beschämung, Hilflosigkeit, Enttäuschung und Wut in Erinnerung. Das vergiftet die Beziehung zu diesem Menschen und führt manchmal zu unangemessenen Reaktionen gegenüber völlig Unbeteiligten. Wenn wir den Gedanken an erlebtes Unrecht wach halten, halten wir auch den Schmerz wach. Es kostet viel Kraft und Energie, dauerhaft in der Opferposition zu bleiben, zu grollen, zu hadern und auf Genugtuung zu warten. Es kann sogar körperlich krank machen.
Vergebung ermöglicht, dass die Wunden heil werden und setzt uns frei. Das kann manchmal schwer sein und auch Zeit brauchen, bis wir den Schritt tun können. Manche Verletzung geht tief, doch dem Schuldner zu vergeben ist ein notwendiger und heilsamer Weg.
Aber was ist, wenn ein und derselbe Mensch mich im­mer wieder verletzt? Diese Frage hatte Petrus auch: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, der gegen mich sündigt? Bis siebenmal? Jesus antwortete ihm: Ich sage dir, nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmalsiebenmal!“ (Mt 18,21f)
Diese seltsame Rechnung bedeutet nicht 70 x 7 = 490, sondern: unendlich. Gott vergibt uns wieder und wieder. Und wir sollen seinem Beispiel folgen.

Versöhnung mit Gott
Gott sündigt nicht, deshalb gibt es nichts, was wir ihm vergeben könnten. Aber durch schwere Erlebnisse, Schicksalsschläge, nicht erhörte Gebete, quälende Krankheiten, die nicht geheilt werden, kann Groll, Anklage und Bitterkeit gegen Gott in uns entstehen. Im Grunde sind auch das Schuldscheine, die wir gegen ihn ausstellen. Gott, warum hast du das zugelassen? Warum hilfst du mir nicht? … Das Vertrauen ist erschüttert, eine Blockade kann zwischen ihm und uns entstehen.
Es ist wichtig, diese Schuldzuweisungen auszuräumen und unsere Beziehung mit Gott zu bereinigen.

Vergeben und Vergessen?
Manche haben ein Problem mit der Vergebung anderen gegenüber, weil sie denken, dass damit alles verharmlost wird: Ach, war ja nicht so schlimm. Das ist vergeben und vergessen. Aber Vergeben ist nicht gleichbedeutend mit Bagatellisieren oder Vergessen. Im Gegenteil.
In dem obigen Gespräch mit Petrus erzählt Jesus ein Gleichnis (Mt 18,23ff): Ein König zitiert einen Untertanen zu sich, der riesige Schulden bei ihm hat. Der König rechnet erst mal ab: ‚So viel bist du mir schuldig und ich erwarte eine Erstattung.‘ Er beschönigt nichts, sondern führt ihm die Riesenschuld – die er niemals bezahlen könnte! – vor Augen. Erst auf das Betteln des Knechtes hin lässt der König Gnade walten und erlässt ihm die Schuld.
Wir dürfen erlebtes Unrecht beim Namen nennen – vor Gott, bei einem Seelsorger, in einer Therapie, manchmal auch vor dem Verursacher. „Abrechnen“, aussprechen, klären was zu klären ist und sich zur Gnade durcharbeiten. Manchmal gelingt die Versöhnung, manchmal leider nicht.
Manches Unrecht vergessen wir irgendwann. Anderes werden wir auch weiterhin wissen, weil es ein prägender Teil unserer Lebensgeschichte ist. Geschehenes ist geschehen, es hatte Folgen. Die Frage ist nur: Bin ich damit versöhnt? Werde ich dadurch noch beeinflusst? Ist das negative Erlebnis verarbeitet, dann ist es wie ein altes Buch in meiner Bibliothek. Ich weiß, es steht im Regal, aber ich muss nicht dauernd darin lesen. Und wenn ich mal reinschaue, dann verursacht es keine Schmerzen mehr.

Verzichten und Loslassen
Die Sprachwurzel von Verzeihen ist Verzicht. Und darum geht es: Vergeben heißt, eine reale oder persönlich empfundene Schuld zu erlassen. Wir zerreißen den Schuldschein und überlassen es Gott, wie er mit dem Schuldner umgeht (Röm 12,19).
Wir lassen Gnade walten, verzichten auf Rache und behalten keine Vorwürfe oder Anklagen in der Hinterhand. Damit lösen wir die negative seelische Bindung an den Schuldner. Das ist erst mal eine innere Angelegenheit, die ich dem anderen nicht unbedingt mitteilen muss. Es ist ein Willensakt, der auch unabhängig von unserer Gefühlslage funktioniert. Die Gefühle brauchen oft noch Zeit, um hinterher zu kommen und heil zu werden. Aber das darf sein.
Wir warten nach dem Vergeben nicht mehr darauf, dass der Andere sich bei uns entschuldigt oder eine Erklärung abgibt. Aber wenn das geschieht, dann können wir es als eine besondere Gnade annehmen. Vielleicht ist es der nächste Schritt auf dem Weg der Versöhnung untereinander und mit unserer Lebensgeschichte. •

Karin Schwab
ist Mitarbeiterin im OscH e.V.
und lebt in Bautzen

Literaturhinweise:
• Psychologie Heute April 1993, S. 20-26 (Infos über Prof. R. Tausch)
• „Lebenskunst Vergebung“, Martin Grabe, Francke-Buchhandlung Marburg, 2007
• „Jede Frau und das geheime Verlangen“, Shannon Ethridge, SCM Hänssler, 2007 (USA-Studien)