Kernkompetenz

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In der Kirche des Heiligen Geistes, Wien-Ottakring (Foto: S. Lehnert)

Die Sieben Gaben des Heiligen Geistes

Stefan Lehnert, Bautzen

Bei den Gaben des Heiligen Geistes denken wir oft an 1. Korinther 12 – Wort der Weisheit, der Erkenntnis, Heilungsgabe, prophetische Rede, Zungenrede, usw. Aber das sind nicht die einzigen Geistesgaben, um die es in der Bibel geht.

Reisen bildet. Vor einigen Jahren waren meine Frau und ich zu einem Kurzurlaub in Wien. Wie üblich schauten wir uns die eine oder andere alte Kirche an, z. B. im Stadtteil Ottakring die Heilig-Geist-Kirche. Dort standen wir mit großen Augen und vielen Fragezeichen vor dem Altarraum: In Reih und Glied sind sieben überlebensgroße menschliche Silhouetten zu sehen, in einer Mischung aus Jugendstil und griechischer Antike.

Über jeder Figur steht ein Wort: Weisheit, Einsicht, Stärke, usw., teilweise in einer etwas altertümlichen Schreibweise. Wir fanden es faszinierend und auch ein bisschen merkwürdig. Was ist das? Ein Infoblatt klärte uns auf: Jede dieser Figuren steht personenhaft für eine der sieben Gaben des Heiligen Geistes nach dem Propheten Jesaja: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn ruht auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Und er hat sein Wohlgefallen an der Furcht des Herrn“ (Jes 11,1-3).

Bei den Gaben des Heiligen Geistes denken wir oft an 1. Korinther 12 – Wort der Weisheit, der Erkenntnis, Heilungsgabe, prophetische Rede, Zungenrede, usw. Aber das sind nicht die einzigen Geistesgaben, um die es in der Bibel geht. Die lutherische Theologie hat weitere Gaben herausgearbeitet, die dem entsprechen, was der Heilige Geist in uns bewirkt: Berufung, Wiedergeburt, Bekehrung, Rechtfertigung, Buße, Vereinigung mit Gott, Heiligung. Dann gibt es die Ämter, die eng mit den Charismen verknüpft sind, wie Lehrer, Evangelisten, Diener, usw.

Und dann ist da Jesaja, dessen Übersicht als die „Sieben Gaben des Heiligen Geistes“ bekannt ist. Da sie im Alten Testament stehen, kann man schließen, dass sie sozusagen die Grundlage sind, in die die neutestamentlichen Geistesgaben eingebettet sind.

Wieso eigentlich sieben Geistesgaben? Bei Jesaja stehen doch nur sechs, wobei die Furcht des Herrn zweimal vorkommt. Das hängt mit der Übersetzung zusammen. In alten griechischen und lateinischen Bibelübersetzungen stand anstelle der ersten „Furcht des Herrn“ das Wort für Frömmigkeit. Da wären es dann doch sieben.

Zu Jesajas Zeiten wussten die Leute: Stamm Isais – aha, hier geht es um einen König. Isai war der Vater von König David. Nun hatte das Volk Israel damals eine Reihe inkompetenter und gottloser Könige erlebt. Dem hält Jesaja ein Kontrastprogramm entgegen: einen kommenden König, der gerecht regiert und der sein Volk wieder mit Gott in Verbindung bringt. Denn auf ihm ruht der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke …

Der italienische Gelehrte Robert Bellarmin (1542-1621) sah Jesajas Prophetie als eine Leiter, die vom Himmel zur Erde herabkommt. Für uns, die wir nach oben wollen, ist die Reihenfolge genau umgekehrt. Diese Blickrichtung hat auch das bekannte Bibelwort Sprüche 9,10 „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit“: Ausgangspunkt ist die Gottesfurcht, die am Ende zur Weisheit führt. Gehen wir die großen Sieben der Reihe nach durch, und zwar nach Bellarmins Reihenfolge von hinten nach vorn.

1. Gottesfurcht

Das ist der Herzenswunsch, den Willen Gottes über den eigenen Willen zu stellen. Für fromme Juden war die Furcht Gottes ein Glaubensideal, darum kommt sie im Alten Testament recht häufig vor. Auch wenn sie im Neuen Testament etwas in den Hintergrund tritt, ist sie doch nach wie vor wichtig. Es klingt wie eine heilige Faustregel, die uns Jakobus in seinem Brief gibt: „Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“ (Kap. 4,6). Ohne Demut, ohne Furcht Gottes geht nichts im Glauben.

Dennoch ist sie für manche ein Reizwort. Vielleicht haben sie sich gerade mit Mühe und Not vom strafenden Richter-Gott zum liebenden Vater durchgeglaubt und -gekämpft. Und jetzt kommt einer und verkündet Gottesfurcht. Dann steht bei Jesaja auch noch das hebräische Wort yir’áh, was Angst und Schauern bedeutet.

Hier ist es wieder interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Worte gefüllt werden. Für einen frommen Juden bedeutete yir’áh im Blick auf Gott eben kein Entsetzen oder Eingeschüchtertsein. Die hätten zur Folge, dass er vor dem Allmächtigen das Weite sucht und da weiß der gläubige Jude: Das will Gott nicht. Aber die Gabe der Gottesfurcht motiviert ihn, sich ehrfurchts- und respektvoll seinem Schöpfer zu nahen und die Gebote zu halten.

Das genau ist der Unterschied, den der Heilige Geist durch diese Gabe bewirkt: Menschlich gesehen sind wir von dem unsichtbaren Gott vielleicht eingeschüchtert und meiden ihn, wenn wir eine Ahnung von ihm bekommen. Aber der Geist Gottes schüchtert nicht ein. Seine Gabe verwandelt alle Angst in Ehrfurcht. Der Kirchenlehrer Bonaventura (1221-1274) hat jeder einzelnen der sieben Geistesgaben eine Bitte im Vaterunser zugeordnet. Das kann man für theologischen Zeitvertreib halten, aber es hat einen tiefen Sinn. Wenn wir beten „Geheiligt werde dein Name“ und das auch ernst meinen, dann beten wir unausgesprochen um die Gabe der Gottesfurcht.

2. Frömmigkeit

Für sie steht die Bitte „Dein Reich komme“. Frömmigkeit klingt ein wenig altmodisch, man sagt heute eher Spiritualität. Gemeint ist der Wunsch, Gott den Stellenwert zu geben, der ihm zusteht. Das Sehnen, dass er mehr und mehr zum Mittelpunkt des Lebens wird. Frömmigkeit ist nichts anderes als gelebte Liebe zu Gott. Im Grunde öffnen wir, wenn wir uns an ihn wenden, unser Herz für die Geistesgabe der Frömmigkeit.

3. Erkenntnis

Diese Gabe wird manchmal auch heilige Wissenschaft genannt. Aber sie ist nicht gleichzusetzen mit der Theologie. Was bewirkt die Gabe der Erkenntnis? Sie hilft uns, die Dinge des Lebens so zu sehen, wie Gott sie sieht. „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“ ist die entsprechende Vaterunser-Bitte.

Die Propheten des Alten Bundes hatten diese Geistesgabe. Wenn jemand Dinge beschreibt, die dann so eintreffen, kann man wohl davon ausgehen, dass er sie hat. Oder wenn jemand hinter die Fassade sieht und den eigentlichen Kern von etwas erkennt.

4. Stärke

Bei diesem Wort haben wir oft diese Haudrauf-Filme vor Augen; Bud Spencer und Terence Hill lassen grüßen. Aber hier geht es nicht darum, etwas mit Gewalt durchzusetzen. Die Gabe der Stärke ist eher nach innen gerichtet: Sie bewirkt eine Festigkeit und Beharrlichkeit, die uns befähigt, für Gott und sein Reich Neues zu wagen, unsere Meinung zu vertreten, andere Meinungen auszuhalten, Herausforderungen zu begegnen, Gegenwind standzuhalten. Der Geist der Stärke öffnet uns den Blick für die Allmacht Gottes und unser Abhängigsein von ihm. Er lehrt uns beten „Unser tägliches Brot gib uns heute“, weil er uns die Augen dafür öffnet, woher unsere Kraft kommen muss.

Ohne diese Gabe ist es nicht möglich, die Menschen zu lieben. Wir mögen normalerweise mehr die, die uns sympathisch sind oder uns Gutes tun. Aber was ist mit Zeitgenossen, die uns Böses wollen, oder Leuten mit befremdlichen Ansichten? Sie als geliebte Geschöpfe Gottes anzunehmen, fordert uns heraus. Da hilft die Geistesgabe der Stärke.

5. Rat

Diese Gabe befähigt uns, die Dinge des Lebens im Blick auf den Willen Gottes zu beurteilen – also ein stückweit seinen Willen zu erkennen. Eigentlich beten wir, wenn wir Gott um eine konkrete Wegweisung bitten, um den Geist des Rates.

Diese Gabe fängt bei mir selbst an: Durch sie erkenne ich, wo ich selbst nicht im Willen Gottes bin. Habe ich Barmherzigkeit empfangen, dann hilft mir der Geist des Rates, im Blick auf andere barmherziger zu werden. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ ist dann auch die zugeordnete Vaterunser-Bitte.

6. Einsicht/Verstand

Von dem großen Gelehrten Thomas von Aquin heißt es, er habe auf den Stufen des Altars mehr gelernt als durch das Studium von Büchern. Das verdankte er der Geistesgabe der Einsicht. Wissen aus Büchern ist wichtig und nötig. Aber es ersetzt nicht die Einsicht, die uns von Gott zukommt. Erst sie ermöglicht einen umfassenden Blick auf die Welt und das Leben. Die Gabe der Einsicht bzw. des Verstandes lehrt uns, das Reich Gottes und seine Dimensionen in unserem Denken zu verankern.

Aber steht nicht im Buch der Sprüche (3,5): „Verlass dich auf den Herrn und nicht auf deinen Verstand“? Stimmt. Das sagt jedoch lediglich, dass unser Verstand nicht als letzte Instanz taugt. Da steht nicht, dass wir ihn abschalten sollen, sobald es um die Dinge Gottes geht. „Versuchen Sie mal, fünf Minuten lang zu glauben, ohne dabei zu denken. Viel Spaß!“ (Christian Schwarz).

Wir nehmen wahr, was vor Augen ist – Gott sieht tiefer. Er sieht das Herz an, er schaut den Dingen auf den Grund. Die Einsicht versetzt uns gewissermaßen in die Lage, seinem Blick ein Stück zu folgen. Damit wir uns mit dieser Gabe nicht überheben, lehrt uns der Geist der Einsicht zu beten: „Führe uns nicht in Versuchung“.

Besonders im Blick auf die Welt mit ihren scheinbar immer knapper werdenden Ressourcen erinnert uns der Geist der Einsicht an die unendlichen Möglichkeiten Gottes. Er sieht die Not seiner Kinder. Den Propheten Elia z. B. versorgten seltsame Diener: „Die Raben brachten ihm Brot und Fleisch am Morgen und ebenso Brot und Fleisch am Abend und er trank aus dem Bach“ (1Kö 17,6). Sicher, Gottes Eingreifen lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen, die wir dann auswendig lernen und bei Bedarf aufsagen. Später kam Elia auf der Flucht vor der blutrünstigen Königin an seine Grenzen. Gott lässt eben auch die Dürrezeiten zu.

Vielleicht weht in diesen Zeiten der Geist der Einsicht besonders stark. Er lehrt uns, nicht nur auf die irdischen Begrenzungen zu starren, sondern auf Gott und seine Möglichkeiten zu vertrauen. Was uns natürlich nicht aus der Verantwortung für unser Leben entlässt.

7. Weisheit

Wir sind auf der obersten Leitersprosse angekommen! Was bewirkt die Weisheit, die Krönungsgabe? Sie befähigt uns, den wahren Wert von etwas zu erkennen. Durch sie können wir Göttliches von Menschlichem unterscheiden. Diese Gabe ermöglicht es, dass störende Einflüsse wie Befindlichkeiten oder Gruppenzwänge uns nicht davon ablenken, das Richtige zu denken, zu sagen und zu tun. Manchmal wird Weisheit genau dann sichtbar, wenn jemand bestimmte Dinge nicht sagt oder tut.

„Erlöse uns von dem Bösen“ ist die Vaterunser-Bitte, die Bonaventura der Geistesgabe der Weisheit zugeordnet hat. Denn sie zeigt uns, dass die wirkliche Unterscheidung zwischen Gutem und Bösem offenbart werden muss.

Im Alten Testament gibt es die sogenannte Weisheitsliteratur: Hiob, Sprüche, Prediger, Esther, Daniel. Auch einige Spätschriften, die wir als Apokryphen kennen, gehören dazu, z. B. Jesus Sirach oder das Buch der Weisheit.

Das Neue Testament hat ebenfalls eine Weisheitsliteratur, die wir aber nicht so nennen. Es sind die Aussprüche und Gleichnisse Jesu. Sie bringen mit wenigen Worten auf den Punkt, worauf es im Leben und Sterben ankommt: dass wir ein Wertefundament als stabilen Untergrund für unser Lebenshaus brauchen, damit es nicht im Sand versinkt und in Schieflage gerät. Dass wir unsere Talente einsetzen und nicht verbergen sollen. Dass barmherziges Handeln vor Gott mehr zählt als das bloße Einhalten frommer Regeln …

Weisheit wird am besten sichtbar an weisen Menschen: König Salomo steht für sie wie kaum ein anderer Mensch unter der Sonne. Sein berühmter Schiedsspruch (1Kö 3,16-28) ist zum sprichwörtlichen Maßstab für weise Urteile geworden. Dann ist da Rabbi Gamaliel, der zu seinen Amtsbrüdern sagte: Lasst die Finger von den Aposteln! Ist ihr Wirken allein menschlichen Ursprungs, dann werden sie von selbst scheitern und von der Landkarte verschwinden. Aber wenn sie von Gott sind und ihr gegen sie vorgeht, dann habt ihr ein Problem mit Gott (Apg 5,34-39). Oder der Apostel Paulus, der von Leuten berichtet, die aus unlauteren Motiven Christus verkündigten. Seine Schlussfolgerung: Was soll‘s? Ob sie mir schaden wollen oder es aus ehrlichem Herzen tun – Hauptsache, Christus wird verkündigt (Phil 1,18).

Zusammenfassung

Der kommende König, auf den Jesaja hinwies, ist der Messias Jesus. In ihm sind die sieben Geistesgaben vollkommen vereinigt. Wir dürfen Gott um diese Gaben bitten und uns nach ihnen ausstrecken. Jeder Gläubige hat Anteil daran, in unterschiedlichem Maß. In der Gemeinschaft des Glaubens können wir einander auch darin ergänzen.

Der Autor ist Mitarbeiter im OscH e.V.
Er ist verheiratet mit Beate und lebt in Bautzen.