Der Vers mit der Mauer

Gedanken zu Psalm 18,30

Viele Bibelverse haben mehrere Bedeutun­gen. „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“ ist so einer. Er macht uns Mut, Probleme und Begrenzungen mit Gottes Hilfe zu meistern. Alleine wird das nichts, da ist die Mauer einfach zu hoch. Aber mit Gott sieht das schon anders aus.

Psalm 18 ist ein Danklied Davids an Gott, der ihn aus der Gewalt seiner Feinde errettet hat. Nach einem großen Lobgesang beschreibt David in dramatischen Bildern seine Verlorenheit und sein Flehen um Rettung. Er schildert das Erzürnen Gottes angesichts der Not seines Dieners. David erzählt von den Banden der Unterwelt und den Schlingen des Todes, die ihn umstrickt hatten. Er singt vom Zorn Gottes, von Rauch, der aus seiner Nase quillt, von glühenden Kohlen, die von ihm sprühen. Von Pfeilen und Blitzen, die er schleudert, von den Tiefen des Meeres und den Grundfesten der Erde, die sich auftun. David besingt die Hand Gottes, die ihn aus den Wassern zieht und der Hand der Übeltäter entreißt. Er reflektiert über das wunderbare Handeln des Allerhöchsten und seiner, Davids, Sendung als Herrscher über seine Feinde und über fremde Völker.
Mitten in dieser Gemengelage lesen wir: „Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ (EÜ). Eingebettet in das ganze Szenario klingt das sehr nach Entschlossenheit und Kampfeswillen: Ob Wall, ob Mauer – kein Feind, der sich dahinter versteckt, ist vor mir sicher!

Im Licht des Neuen Testaments bekommen solche kriegerischen Worte eine ganz neue Bedeutung. Jesus hat uns zu Feindesliebe und Vergebung beauftragt. Seitdem ist der Umgang mit Leuten, die uns ans Leder wollen, ein anderer.
Dennoch gibt es noch einiges, das uns das Leben schwer macht, wie Schwachheit, Versagen und Angst, Einsamkeit, Lebenskrisen, Krankheiten, gewisse Alterserscheinungen, der Tod … Das sind alles „Feinde“, mit denen wohl jeder irgendwann konfrontiert ist und die sich auch nicht so einfach abschütteln lassen. Sicher, an manchem können wir arbeiten. Aber es gibt Mauern, die lassen sich einfach nicht überspringen, trotz aller Gebete und aller Mühen. Es kann sogar sein, dass sie auf geheimnisvolle Weise von Gott gesetzt sind.

Vor Jahren lief mir mal ein bizarrer englischer Satz über den Weg: „If we fix the fix God has fixed to fix us, God has to fix another fix to fix us.“ Er ist schwer übersetzbar und meint in etwa: Wenn wir wegräumen, was Gott uns in den Weg gestellt hat, um uns dadurch zu erziehen, dann muss Gott uns etwas anderes in den Weg stellen, um uns zu erziehen.
Anders gesagt: Wenn wir die Grenze überspringen, mit der Gott sich für unser Leben etwas gedacht hat, dann wird er uns wohl eine neue hinstellen.
Hier weitet sich die Bedeutung unseres sprungvollen Psalmverses: Die Mauern, die es eigentlich zu überwinden gilt, stehen nicht irgendwo außerhalb von uns, sondern in uns – in unserem Denken, im Herzen. Es geht in erster Linie nicht darum, ohne Einschränkungen zu leben (was sowieso unmöglich ist), sondern innerhalb unserer Begrenzungen Gott Raum zu geben, dass er an uns arbeiten kann. Oder, wie Paulus zu den Athenern sagte: Wir Menschen sind dazu bestimmt, in unseren von Gott bestimmten zeitlichen und räumlichen Grenzen nach ihm zu suchen, ihn zu ertasten, ihn zu finden. Denn er ist nicht fern von uns (Apg 17,26f).
Natürlich suchen wir keine Probleme, sondern lösen sie lieber. Es kann auch nicht darum gehen, sich das Leben künstlich schwer zu machen. Aber es gibt Mauern, die da stehen, damit wir mit Gottes Hilfe lernen, mit ihnen zu leben. Mit ihnen Frieden zu schließen.

Christus hat die Trennwand in unsere Richtung übersprungen. Er hat die Fülle des Himmels eingetauscht gegen die Begrenztheit des irdischen Daseins. Um uns in die größte Weite zu führen, nahm er freiwillig die größte Enge in Kauf – das Kreuz von Golgatha. Wer, wenn nicht er, kann uns in unseren Einengungen verstehen und begegnen.
Die höchste Mauer, vor der wir alle stehen, ist die Endlichkeit unseres Lebens. Wir schauen da nicht so gerne hin. Aber wir sollten genau hinschauen, denn in ihr klafft ein großes Loch. Christus hat es ihr bei seiner Auferstehung verpasst. Mit den Augen des Glaubens können wir es sehen.
Durch diese Öffnung scheint Licht von der anderen Seite zu uns herüber, in unsere Seelen und Herzen. Es ist wie ein Vorgeschmack. Ein Leben völlig ohne Begrenzung wird es erst dort geben, hinter der Mauer. Aber dieser Lichtstrahl macht uns schon mal Lust darauf. Und wenn unsere Zeit gekommen ist, dann ist die Lücke in der Mauer groß genug, dass wir hindurch passen, um auf der anderen Seite anzukommen •

Stefan Lehnert ist Mitarbeiter im OscH e.V. Er ist verheiratet
mit Beate und lebt in Bautzen.