Jona rennt

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Einblicke in die inneren Konflikte eines weitgereisten Propheten

Wegweiser nach Ninive, einem Ortsteil von Herrnhut, Oberlausitz (Foto: S. Lehnert)

Hören wir in diesen Zeiten die Nachrichten, dann erfahren wir vieles, das wir nicht verstehen. Wir suchen Erklärungen, aber spätestens ein halbes Jahr später greifen sie nicht mehr. Denn es passiert wieder etwas Unerwartetes.

Das versetzt uns leicht in Unruhe und wir versuchen die gewohnte Ordnung wieder herzustellen. Aber nicht nur aktuelle Ereignisse, auch Reden und Handeln unseres Gottes entsprechen oftmals nicht unseren Erwartungen und Hoffnungen. Deshalb ermahnt Jesus seine Jünger: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“ (Mt 11,6). Dass dies so manchem Boten Gottes schon passiert ist, bezeugt uns die Bibel.

Einen ausführlichen Bericht über solch einen irritierten Heiligen finden wir im Buch Jona. Es besteht aus vier kurzen Kapiteln. Wenn man sich damit beschäftigt und liest, was verschiedene Ausleger dazu geschrieben haben, merkt man: Es steckt unglaublich viel drin. Am interessantesten fand ich die Parallelen zum Gleichnis vom verlorenen Sohn: In der ersten Hälfte des Jona-Buches finden wir den Sohn, der wegläuft, weil ihm der Wille des Vaters zuwiderläuft. In der zweiten Hälfte finden wir den Sohn, der zu Hause bleibt und tut, was sein Vater will. Aber so richtig zufrieden ist er auch nicht …

Jona, der Sohn des Amittai, sollte in die assyrische Stadt Ninive gehen und ihren Untergang ankündigen. Denn ihre Bosheit war vor Gott gekommen. Aber Jona weigerte sich und stieg in ein Schiff nach Tarsis. Es legte ab. Da zog ein Sturm auf und brachte es fast zum Kentern. Panik kam auf. Jeder betete zu seinem Gott und warf alles Mögliche über Bord. Nur Jona lag unten im Schiffsrumpf und schlief. Irgendwann weckte ihn der Kapitän auf, damit auch er zu seinem Gott betet. Die Besatzung warf das Los, um herauszubekommen, wer für das alles verantwortlich war. So machte man das damals. Das Los fiel auf Jona. Er stellte sich vor als Hebräer, der den Gott des Himmels fürchtet, der das Meer und das Land gemacht hat. Schon vorher hatte Jona den Männern gesteckt, dass er vor Gott auf der Flucht war. Sie fragten ihn, was sie mit ihm anstellen sollten. Er entgegnete: Werft mich ins Meer! Aber das wollten sie nicht. Zuerst versuchten sie es mit Rudern, dann wieder mit Beten. Nichts half. Schließlich warfen sie ihn über Bord – und schon ließ der Sturm nach. Da brachten die Seeleute Gott Schlachtopfer dar und legten Gelübde ab.

Am Anfang des 2. Kapitels lesen wir: „Und der Herr bestellte einen großen Fisch, Jona zu verschlingen; und Jona war drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches.“ Dies kommentierte einmal jemand augenzwinkernd: „Der Herr bestellte einen Fisch und sagte: Schlucken, nicht kauen! Der Mann wird noch gebraucht!“

Vielleicht konnte Jona nicht vor Gott fliehen. Aber
er floh vor dem, was Gott von ihm wollte.

Jona wird im Alten Testament noch an einer anderen Stelle erwähnt. Von ihm als einem anerkannten und bewährten Propheten lesen wir im 2. Könige 14 (etwa 750 Jahre v. Chr.). Für ihn galt, was im Alten Testament wichtig war: Einen echten Propheten erkennt man daran, dass eintritt, was er prophezeit hat.
Das Buch Jona beginnt mit „Und das Wort des Herrn geschah zu Jona.“ Eine seltsame Formulierung. Es ist nicht einfach nur ein Reden, sondern Gott bricht geradezu in das Leben des Propheten ein. Sein Reden ist ein Geschehen. Bei Jona geschah etwas, das sein Leben verändern sollte. Gott sagte ihm regelrecht im Befehlston: „Mache dich auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und verkündige gegen sie!“ Jona war gehorsam und machte sich auf – nur eben in die verkehrte Richtung. Zweimal hintereinander wird in Vers 3 gesagt, er ging „weg vom Angesicht des Herrn.“

Hier war ein Prophet, ein Mann mit Auftrag, der Gott kannte. Aber er ging weg vom Angesicht des Herrn. Anstatt von Israel nach Ninive – etwa 800 bis 1.000 Kilometer – fuhr er in Richtung Tarsis, was ca. 3.500 Kilometer entfernt lag. Man nimmt an, dass diese Stadt im heutigen Spanien lag, für die damalige Zeit das Ende der Welt. Bei Jesaja lesen wir, dass man dort Gott nicht kannte. Also hatte Jona gute Chancen, auf den Straßen von Tarsis nicht auf lauter Fromme zu treffen, die ihn fragen, was er da wolle. Zugleich war es eine bekannte Handelsstadt, d. h. man konnte dort gut untertauchen.

Kannte Jona nicht den 139. Psalm? Egal wo wir hingehen – Gott ist immer schon da! Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Allgegenwart Gottes in seiner Schöpfung und dem Angesicht Gottes. Vor seinem Angesicht zu sein heißt: Ich bin bewusst in seiner Gegenwart. Er schaut mich an, ich schaue ihn an. Davon wandte Jona sich ab – wohl wissend, dass er vielleicht nicht vor Gott fliehen konnte, aber vor dem, was er von ihm wollte.

Ich war erschrocken, dass Jona in seiner Verweigerungshaltung gegenüber diesem Auftrag scheinbar auch die Gemeinschaft mit Gott ein ganzes Stück aufkündigte. Er blieb immer noch ein Mann Gottes. Das lesen wir ja später im Vers 9, als er zu den Seeleuten sagte, er sei ein Mann aus dem Volk Gottes. Er wusste schon, wer er war. „Ich bin ein Hebräer, und ich fürchte den Herrn.“ Aber er vergaß, seinen Beruf zu erwähnen. Es war ihm wohl zu peinlich, dass ausgerechnet er als Prophet vor Gott wegrannte. Wer von uns hat sich nicht auch schon mal durch eine Situation gemogelt und seinen Glauben so halb bekannt – aber eben nur halb? Bei Jona steht dieses harte Urteil: Er ging weg vom Angesicht Gottes. Vielleicht ohne es zu merken.

Die Bibel ist ja voll von Aussagen über das Leben vor dem Angesicht Gottes. Dort ist Freude in Fülle. Wir werden satt werden. Güte und Wahrheit sind dort zu finden. Am bekanntesten ist uns sicher der Aaronitische Segen: „Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“
Aber Jona ging weg vom Angesicht Gottes.

Dann finden wir eine weitere interessante Formulierung. Zweimal heißt es, er ging hinab – einmal hinunter nach Jafo, wo er ein Schiff fand (V. 3). Später stieg er noch einmal hinab: in den Schiffsrumpf und legte sich schlafen (V. 5).

Sein Weggehen von Gott ließ Jona sich durchaus einiges kosten: Er suchte und fand ein Schiff nach Tarsis. Dann steht dort, dass er den Fahrpreis zahlte (V. 3). Ein merkwürdiger Zusatz. Wenn man eine Reise unternimmt, ist es doch das Normalste der Welt, dass man dafür bezahlt. Aber es wird extra betont. Eine Schiffsreise bis ans Ende der damaligen Welt war sicherlich nicht ganz billig. Es wird nicht beschrieben, in welchen finanziellen Verhältnissen der Prophet lebte, aber er zahlte den Fahrpreis. Also war es seine bewusste Entscheidung: Was Gott von mir will, das mache ich nicht.

Unten im Schiff schlief Jona. Man könnte es fast allegorisch auslegen, als eine Art geistlichen Tiefschlaf. Während die Heiden im Seesturm um ihr Leben kämpfen und beten, schläft der Prophet. Alle rufen zu ihren Göttern – aber der Einzige, der den wahren Gott kennt, schläft. Der Kapitän muss ihn wecken: Hallo, Herr Prophet, wären Sie so nett, sich auch mal zu beteiligen? …

Dieser Tiefschlaf war wohl die Folge von Jonas Abkehr vom Angesicht Gottes. Da schläft das geistliche Leben ein. Es wird nirgends davon berichtet, dass Jona irgendwann Gott fragte, was er sich eigentlich mit diesem Auftrag gedacht hatte. Immerhin: Vor den Seeleuten bekannte er sich dazu, dass er den Herrn fürchtet. Aber führte die Gottesfurcht bei ihm zur Weisheit? Die Heiden hatten offensichtlich mehr davon als der Prophet! Als Jona ihnen sagte: Werft mich ins Meer, da wollten sie ihn noch retten. Sie dachten: Wenn wir ihn einfach über Bord werfen, dann bekommen wir vielleicht die Strafe seines Gottes ab. Stattdessen versuchten sie es mit Rudern und noch einmal mit Beten, bevor sie ihn am Ende doch ins Wasser werfen mussten. Dann bestellte Gott diesen Fisch. Erst in dessen Bauch fing Jona wieder an zu beten.

Hallo, Herr Prophet,
wären Sie so nett, sich auch mal zu beteiligen?

Warum verweigerte Jona sich dem Auftrag Gottes? Hatte er einfach keine Lust? – Der Prophet hatte eine Befürchtung. Diese passte weder zu seinem Gottesbild noch zu dem, was wir heute sein biblisches Verständnis nennen würden, noch zu seinem gesellschaftlichen Umfeld. Jona war eben ein Mann seiner Zeit, wie auch wir heute Menschen unserer Zeit sind. Er kam mit dem, was da passierte, an seine Grenzen. Dort kommen wir ja manchmal auch hin und fragen uns: Wieso lässt Gott das zu? Schicksalsschläge in der Familie, in der Gemeinde. Oder jetzt die politische Situation und keiner weiß, wo es hingeht. So lange alles relativ gut läuft, lässt sich ganz gut singen: „Unser Gott allein regiert.“ Aber es gibt Zeiten, da wird es schwierig, das zu bekennen.

Was war Jonas Problem? Waren es die Assyrer, zu denen er gehen sollte? Dieses Volk war damals für Israel Staatsfeind Nummer Eins. Es gibt historische Aufzeichnungen über sie und ihre Brutalität. Um ihre Feinde zu demütigen, haben sie grausame Späße getrieben. Ein Ausleger schreibt, Assyrien war ein Terrorstaat. Genau dorthin schickte Gott seinen Propheten.

Aber auch das war nicht das eigentliche Problem. Jona benannte es selbst. Nachdem er seinen Auftrag doch noch ausgeführt, Ninive Buße getan und Gott sie verschont hatte, heißt es: „Und es missfiel Jona sehr, und er wurde zornig. Und er betete zum Herrn und sagte: Ach, Herr! War das nicht meine Rede, als ich noch in meinem Land war? Deshalb floh ich schnell nach Tarsis! Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich das Unheil gereuen lässt“ (Jon 4,1f).

Das war der Knackpunkt: Wenn Gott den Assyrern Gnade schenkte, dann war mit einem Mal der Feind Israels gesegnet! Sicher kannte Jona die Prophetien seiner Zeit, dass Gott Assyrien gebrauchen wird, um Israel zu erziehen und wegen seiner Gottlosigkeit zu strafen. Jona dachte: Wenn es den Assyrern gut geht, dann geht es uns schlecht! Wenn er wieder nach Hause kommt und die Leute fragen, wo er war und er sagt: „Ich war in Ninive und habe den Assyrern Buße gepredigt. Jetzt sind die richtig gesegnet“ – was dann? Dann wird man ihn für die Probleme Israels verantwortlich machen, denn er hat ihren Feinden geholfen. Das war Hochverrat.

Darüber hinaus hatte er verkündet, dass Ninive in 40 Tagen untergehen wird. Aber es ging nicht unter. Das war schlecht fürs Image: Damit wäre Jona ein falscher Prophet – er hätte etwas prophezeit, das dann nicht eintraf. Gott schickte Jona also in eine verzwickte Situation hinein.

Noch etwas. Als Jona betete: „Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist“, da war das ein Zitat aus 2. Mose 34. Dort lesen wir, dass Gott an Mose vorbeiging und sich ihm vorstellte: „Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Der Herr, der Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue, der Gnade bewahrt an Tausenden von Generationen, der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt …“ (V. 6f).

Diese Geschichte war in Israel bekannt und Jona hat das auch ganz richtig wiedergegeben. Nur ließ er den letzten Satz weg: „… aber keineswegs ungestraft lässt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten Generation.“

Hatte der Prophet da irgendwo in seinem Gottesbild eine Lücke? War das seine Hoffnung, dass Gott Israel nicht straft, aber die anderen Völker schon? Hatte nur Israel Gnade „verdient“?

Diese Spannung zwischen der Liebe und der Gerechtigkeit Gottes ist ja nicht einfach zu verstehen. Wenn Israel das Bundesvolk ist, warum lässt Gott dann zu, dass seine Feinde oft die Oberhand gewinnen?

Gott war an Jona
genau so interessiert wie
an Ninive.

In seiner Not und seinen Begrenzungen suchte Jona nicht das Angesicht Gottes. Da hatte er wohl einfach zu viele Vorbehalte, zu viele Ängste.
Nun lässt es sich leicht über Ängste reden, so lange sie einen nicht selbst betreffen. Manche Leute glauben, Gott würde mit uns nicht über unsere Grenzen hinausgehen. Aber das stimmt nicht. Paulus schreibt z. B. von einer Bedrängnis, die über seine Kräfte ging und ihn am Leben zweifeln ließ (2Kor 1,8). Aber er sah es als Fügung Gottes, damit er lernt, nicht aus seiner Kraft zu dienen, sondern aus der Kraft Gottes. Diese theologische Erkenntnis ist das Eine – es existenziell zu erleben ist nochmal etwas anderes. Da helfen keine vorschnellen Antworten. Auch erfahren wir meistens nicht, warum Gott dies oder jenes zulässt. Wir erfahren nur, dass uns seine Barmherzigkeit genügen soll. Auch Jona erfuhr von Gottes Barmherzigkeit gegenüber Ninive. Dort lebten mehr als 120.000 Leute – sollte Gott nicht betrübt sein, wenn die alle sterben?

Wir dürfen uns eingestehen: Wir alle haben unsere Punkte, an denen wir an unsere Grenzen kommen. Das hilft uns, mit Menschen barmherzig zu sein, die ihre Grenze schon erreicht haben. Natürlich können wir uns immer „endzeitlich retten“: Im Himmel wird einmal alles gut. Ja, das ist unsere Hoffnung. Aber wohin mit unserer Not bis dahin? Wohin mit der Not in unseren Familien und Gemeinden, in unserem Land und darüber hinaus? Gehorsam zu sein ohne zu verstehen – das ist sicher die schwierigste Art zu vertrauen. Mir hilft es immer, wenn ich etwas verstehe oder zumindest zu verstehen meine. Aber ich will Gott vertrauen, auch wenn ich scheinbar nichts sehe.

Trotz des Umwegs übers Meer hat Gott seinen Propheten nie aufgegeben. Er ließ ihn nicht los, sondern gebrauchte ihn weiter. Denn er war an Jona genau so interessiert wie an Ninive. Das tröstet mich, wenn ich mich verrenne und Gott manchmal aus dem Weg gehen will. Gott nahm sich Zeit für Jona und hatte längst einen Plan, wie er ihn trotzdem vorwärts bringt. Er wandte sich nicht ab und verwarf ihn nicht, nur weil er mit manchen Dingen nicht zurechtkam.

Den Umweg hätte der Prophet sich sparen können. Dennoch war Gott barmherzig und hol­te ihn wieder zurück. Denn es war ihm wichtig, dass sowohl Jona sein Leben nicht in Tarsis unter der Sonne Spaniens vergeudet, als auch dass Ninive nicht untergeht. •

Frank Seyfried ist Mitarbeiter des OscH e. V.
Er ist verheiratet mit Katrin und lebt in Julbach am Inn, Bayern.
Bibelzitate nach der Elberfelder Übersetzung