BEGEGNUNG IN VIELFALT UND EINHEIT von Günther Kreusel, Herrnhut
Jesus bringt uns mit Menschen zusammen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Das ist wie in einer Familie, wo man sich seine Geschwister auch nicht ausgesucht hat.

Als ich während meines Theologiestudiums beim Bibellesen zum Glauben gekommen bin, geschah dies durch eine erschreckende und beglückende Erkenntnis dessen, was Gott für mich und alle Menschen in dem gekreuzigten Jesus getan und vollbracht hat. Dies war für mich so klar und gewiss, dass ich von daher das, was andere von Jesus erkannt und gesagt haben, beurteilt habe. Wenn es mir zu anders oder zu wenig war, wie z.B. Jesus nur als Vorbild oder nur in Solidarität mit uns leidend, habe ich es abgelehnt.
Von daher gab es für mich Einheit nur mit denen, die ähnliches von Jesus erkannt hatten wie ich, aber keine Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Das ging so eine ganze Zeit, bis ich am Ende meines Studiums einer mir bis dahin unbekannten katholischen Bewegung begegnete – der Fokolar-Bewegung. In zwei kleinen Büchlein las ich faszinierende praktische Beispiele, wie Leute aus dieser Bewegung ihren Glauben durch die Umsetzung von Worten des Evangeliums und gelebter Gemeinschaft ganz praktisch und alltäglich leben. Ich spürte, dass das wirklicher Glaube war. Echter ins Leben umgesetzt, als ich es selber bis dahin kannte.
Während meiner Vikariatszeit in Berlin suchte ich dann den Kontakt zu dieser Bewegung. Ich wollte mehr von ihnen wissen und fragte sozusagen nach ihrer geistlichen Theorie und Praxis. Und da fiel ich von einer Überraschung in die andere. Was ich da so hörte, war eine ziemliche Zumutung für mich. Es war in vielem anders, als ich es damals dachte, wie z.B. Eins werden mit dem Nächsten aus Liebe zu Jesus, egal ob oder was er glaubt. Jesus, in welchem Schmerz auch immer, finden und den Schmerz in Liebe annehmen. Die gegenseitige Liebe als Bedingung für die Gegenwart Jesu unter uns. Vieles war für mich falsch oder zumindest unverständlich. Ich dachte oft: Wie kann man nur so denken und glauben? Aber ich konnte sie nicht einfach ablehnen und abschießen. Dafür waren die Früchte in ihrem Leben, ihre Liebe zu Jesus und den Menschen, zu echt. Es war ein Problem für mich: Wie passt das alles zusammen? Wie kriege ich das zusammen? Was ist nun richtig? … Ich kam unter Druck in meinem bisherigen Denken und Glauben.
Nach und nach ging mir dann auf, was bei mir nicht stimmte. Nicht meine Erkenntnis von Jesus und seinem Heil – die war richtig und wichtig. Daran brauchte ich nichts zu ändern. Was bei mir nicht stimmte, war: Ich hatte meine Erkenntnis, ohne es selber zu merken, zur ganzen Wahrheit gemacht. Als könnte es neben meiner Erkenntnis nicht noch anderes geben. Ich kannte natürlich das Wort des Paulus, dass unsere Erkenntnis und unser Wissen nur Stückwerk ist. Aber erst jetzt wurde mir klar, was das bedeutet: Meine so klare und große Erkenntnis Jesu ist auch nur ein Stück und nicht die ganze Wahrheit. Dass ich nicht die ganze Wahrheit haben kann, sondern sie Gott allein ist und hat, das leuchtete mir an dieser Stelle neu ein. Mir wurde klar, dass ich mich ganz schön verstiegen hatte im Pochen auf meine Erkenntnis und in meiner überlegenen Haltung anderen gegenüber. Denn damit tat ich so, als hätte ich die ganze Wahrheit.
Ja, ich hatte mich damit an Gottes Stelle gesetzt. Was für eine Vermessenheit, Gott gleich sein zu wollen! Das ist lächerlich und gefährlich zugleich. Und das wollte ich doch eigentlich gar nicht. Dass Gottes Wahrheit größer ist als meine Erkenntnis von ihr – das konnte und wollte ich akzeptieren. Langsam wuchs daraus die Freiheit, dass ich die Wahrheit größer sehen konnte als meine Erkenntnis. Die Bruchstückhaftigkeit meiner eigenen Erkenntnis anzuerkennen, führte zu einem schmerzhaften, aber auch befreienden Umdenken. Nun mussten nicht mehr alle anderen so denken wie ich. Und ich brauchte nicht mehr alles zu verstehen oder zu beurteilen, was andere glaubten. Wenn ich alles verstehen und beurteilen könnte, dann wäre ich ja Gott und kein Mensch mehr. So wollte ich nicht mehr länger sein.
Jetzt wurde ich offener auch für Erkenntnisse und Aussagen, die anders waren – ja die vielleicht im Gegensatz zu meiner bisherigen Sicht standen. Ich entdeckte, dass solche Aussagen nicht falsch sein müssen, sondern eine Ergänzung sein können. Ich lernte eine neue Sicht der Wirklichkeit Gottes und der Welt kennen, die nicht in einer Aussage zu fassen ist. Bei Arthur Richter* las ich, dass die Wahrheit Gottes nicht wie ein Kreis mit einem Mittelpunkt ist. Sondern sie ist wie eine Ellipse, die zwei Mittelpunkte hat, so dass auch noch der Gegensatz dazugehört. Wie froh bin ich inzwischen über diese Relativierung meiner eigenen Erkenntnis und die dadurch gewonnene Offenheit für das, was Gott anderen Geschwistern in seiner weltweiten Kirche schenkt und damit auch mir.

Dass bei Gott und in seiner Kirche Vielfalt/Unterschiedlichkeit und Einheit zusammengehören, dafür sind mir drei biblische Aussagen hilfreich geworden:
Die Kirche als der Leib Christi Das ist nicht nur ein Bild, ein Vergleich, sondern eine Wirklichkeit. Wir sind als Christen ein Leib. Zu einem Leib gehören ja ganz unterschiedliche Teile, die dennoch zusammengehören: wie z. B. Auge und Magen. Wie verschieden ist ihr Aussehen, ihre Funktion.
Ich finde es ermutigend und herausfordernd, dass Gott uns mit unserem Leib ein sichtbares Beispiel dafür gegeben hat, wie groß Unterschiede sein können, ohne dass damit die Einheit verlorengeht. Wir erleben es ja tagtäglich am eigenen Körper: Wenn zwei so verschiedene Organe wie das Herz und die Füße zusammengehören, wie groß können die Unterschiede von Christen sein, ohne dass dies dem Miteinander abträglich sein muss. Unser Körper funktioniert als Einheit nicht dadurch, dass sich die unterschiedlichen Organe einander angleichen und ihre Andersartigkeit aufgeben. Sondern er funktioniert gerade dadurch, dass sie bleiben, was sie sind und ihre unterschiedlichen Funktionen ausüben.
Dass die verschiedenen Organe zusammengehören, ist auch nicht sofort offensichtlich. Die Zusammengehörigkeit kommt nicht durch Vergleichen zustande. Die meisten sind dazu ja zu verschieden. Wie wollen wir z.B. die Ohren und die Leber vergleichen? Die Einheit ist nur im Miteinander erlebbar. Zum Funktionieren unseres Körpers werden alle unterschiedlichen Organe und Glieder gebraucht. So verschieden sie auch wirken – sie brauchen einander und leben voneinander. Und nur so können wir auch als Gemeinde leben. Nicht dadurch, dass wir uns beurteilen, vergleichen oder angleichen, sondern indem wir uns füreinander interessieren, einander kennenlernen und uns mit unseren Gaben ergänzen. Vieles ist nicht von vornherein zu verstehen. Aber wir können in der Begegnung erfahren: Der Andere tut mir gut, gerade in seiner Andersartigkeit. Wenn alle so wären wie ich – wie langweilig und wenig hilfreich wäre das! Denn ich kann ja gar nicht alles selber. Gut, dass der Andere mich ergänzen kann.
Vielfalt und Einheit sind etwas Göttliches. Für Gott ist das kein Widerspruch, nur für uns Menschen. Aber wir können es lernen im gelebten Miteinander.
1. Korinther 12, 4-6
– Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist.
– Es sind verschiedene Dienste, aber es ist ein Herr.
– Es sind verschiedene Kräfte, aber es ist ein Gott.
Paulus hat hier dreimal hintereinander Verschiedenheit und Einheit gegenüber- und zusammengestellt. Weil es göttlich ist und wir zu lernen haben, dass wir Unterschiedliches nicht gegen die Einheit ausspielen müssen, sondern Verschiedenes und Einheit zusammengehören.
Als der Eckstein im Haus Gottes (Eph 2,20f.; 1Pt 2,4ff) verbindet Jesus den einzelnen Glaubenden nicht nur mit sich, sondern mit allen, die zu ihm gehören. Jesus verbindet uns in der Kirche mit Menschen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Das ist wie in einer Familie, wo man sich seine Geschwister auch nicht ausgesucht hat. Darum haben sich die ersten Christen als Schwestern und Brüder verstanden und angesprochen. Dabei können Schwestern und Brüder ganz schön verschieden sein – und gehören doch zur selben Familie.
Es gehört für mich zu der Versöhnung und dem Frieden, den Jesus in seiner Gemeinde wirkt, dass ich von meinen Schwestern und Brüdern nicht erwarte, dass sie alles genauso sehen wie ich. Es genügt, dass ich sie als Geschwister ansehe und so mit ihnen lebe. Denn nicht unsere Übereinstimmungen verbinden uns, sondern Jesus allein, der unser Friede ist.
Günther Kreusel
ist Pfarrer i. R. der Ev. Brüdergemeine und lebt in Herrnhut.